Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite

Beitragvon Maik Thomaß » 23.06.2022, 14:59

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier beim Abendessen für die Mitglieder des Ordens Pour le mérite


Die Pandemie hat viele Gewohnheiten des öffentlichen Lebens unterbrochen – auch die schöne Tradition, dass der Bundespräsident jeden Frühling an der Sitzung des Ordens Pour le mérite teilnimmt und die Mitglieder anschließend zum Abendessen in seinen Amtssitz einlädt. Als Protektor Ihres Ordens freue ich mich sehr, dass wir diese Tradition heute wieder aufnehmen können – seien Sie alle ganz herzlich willkommen hier im Schloss Bellevue.

Vorhin im Konzerthaus haben Sie drei neue Mitglieder in Ihre Gemeinschaft aufgenommen: eine Schriftstellerin, einen Historiker und einen Judaisten. Liebe Herta Müller, dass Sie einmal Ritterin eines Ordens sein würden, der einst zu Ehren des "Alten Fritz" gegründet wurde, das hätten Sie sich vermutlich auch nicht träumen lassen. Und ich weiß nicht, lieber Sir Christopher Clark, lieber Professor Schäfer, ob das bei Ihnen anders ist. Aber es ist großartig, dass Sie mit dabei sind. Ihnen Dreien heute Abend ein ganz besonders herzliches Willkommen!

Die Freude über unser Beisammensein wird überschattet von dem grausamen Angriffskrieg, den Russland nun schon seit fast vier Monaten gegen die Ukraine führt. Zigtausende getötete Soldaten und ermordete Zivilisten, vergewaltigte Frauen, verwaiste Kinder, zerstörte Städte, Millionen Menschen auf der Flucht – dieser verbrecherische Krieg, für den Präsident Putin und sein Regime verantwortlich sind, dieser Krieg bringt furchtbares Leid über die Ukraine, er macht uns fassungslos, traurig und wütend.

Und wir alle wissen: In einer Zeit, in der die globale Krise der Pandemie noch nicht überwunden ist, hat nun auch dieser Krieg Folgen für die ganze Welt. Ich komme, wie die meisten wissen, gerade aus Indonesien, aus Südostasien zurück. Dieser Krieg verschärft vor allem in den ärmeren Regionen Energie- und Ernährungskrisen, und er stellt uns vor die Frage, wie wir Klimawandel, Artensterben, Hunger und Krankheiten trotz aller Erschütterungen der Weltordnung eigentlich noch erfolgreich bekämpfen können.

Gerade in dieser Zeit der Krisen und Umbrüche, in der viele Menschen verunsichert, besorgt, oft auch ratlos sind, gerade in dieser Zeit brauchen wir Wissenschaften und Künste, die uns Halt, Richtung, manchmal auch die Gelegenheit zu kleinen Fluchten geben, die uns aber zugleich auch neue Denkräume und Möglichkeiten eröffnen.

Die Mitglieder des Ordens Pour le mérite, Sie alle stehen in besonderer Weise für dieses Potenzial, dieses Vermögen von Wissenschaften und Künsten, unsere Welt zu einem besseren, zu einem lebenswerteren Ort zu machen. Und Sie stehen alle zusammen miteinander für die Verantwortung, die wir als Menschen für die Zukunft unseres Planeten haben.

Der Orden Pour le mérite wird an Frauen und Männer verliehen, die sich „durch weit verbreitete Anerkennung ihrer Verdienste“ in der Wissenschaft oder in der Kunst „einen ausgezeichneten Namen erworben haben“, so hieß es im Gründungsdekret von 1842, das damals, Sie ahnen es, allerdings nur Ritter zuließ, liebe Herta Müller, keine Ritterinnen. Wen das Ordenskapitel dabei neu in seine Reihen aufnahm und vor allen Dingen, wen nicht, diese Frage hat hier in Berlin immer wieder das Stadtgespräch belebt.

Einer, der den Pour le mérite unbedingt haben wollte, war Heinrich Schliemann, der schillernde, bis heute umstrittene Selfmade-Archäologe, dem hier in Berlin gerade eine neue Ausstellung gewidmet ist.

Dass die Entdeckungen, die er in Troja gemacht hatte, ausgerechnet in seinem Heimatland auf Skepsis stießen, das kränkte Schliemann zutiefst. Er fühlte sich von der deutschen Fachwelt verkannt, von der deutschen Öffentlichkeit nicht ausreichend gewürdigt, und welchem Land auch immer er seine „trojanischen Schätze“ schenken würde, eines war für ihn klar: „An Deutschland“, schrieb er 1875, „An Deutschland gebe ich sie nicht.“

Es war Rudolf Virchow, der den Abenteurer und Raubgräber schließlich doch dazu bewegen konnte, seine Funde an Deutschland zu geben – wobei Schliemann allerdings eine klare Bedingung stellte: Virchow müsse dafür sorgen, dass die Schenkung ans deutsche Volk „die allgemeinste und höchste Anerkennung findet“.

In einem wunderbaren Briefwechsel verhandelten die beiden Männer im Jahr 1881 die Details. Schliemann wollte das Ehrenbürgerrecht von Berlin, und er wolle, schrieb er aus Athen, auch Orden „gerne annehmen“; Virchow möge ihm doch bitte „in dieser Beziehung […] verschaffen, was möglich ist“ – vor allem „natürlich“ den Orden Pour le mérite.

Virchow antwortete aus Berlin: „Was Ihre Ordensgeschichte betrifft, so hat mich das höchlich ergötzt.“ Er wolle Schliemann gern helfen; die Aufnahme in den Orden Pour le mérite allerdings sei „eine Art von Würfelspiel“, da könne er nichts tun. Er selbst, schrieb Virchow, habe sich „längst darein gefunden, ohne diese Dekoration zu sterben.“

Überraschend kleinlaut erwiderte Schliemann: „Dringend bitte ich Sie und Ihre hochwürdige Frau, nicht über meine Ordenssucht zu lachen, […] keiner von Ihnen wird mich je einen Orden tragen sehen. Aber Orden machen sich wunderbar, um die leeren Räume meiner Schränke, die für die trojanischen Schätze bestimmt waren, […] geschmückt zu sehen.“

Sie wissen vermutlich alle, wie diese „Ordensgeschichte“ ausging: Heinrich Schliemann wurde nie in den Orden Pour le mérite aufgenommen, Rudolf Virchow dagegen schon – allerdings erst kurz vor seinem Tod.

Ich finde, Schliemanns Briefe machen sehr schön anschaulich, was der Orden Pour le mérite gerade nicht sein sollte: Ein Schmuckstück, das man nicht öffentlich trägt, sondern im privaten Schrank aufbewahrt, um sich selbst daran zu ergötzen oder ein wenig anzugeben, wenn man mal Gäste im Haus hat.

Die Idee dieses Ordens ist eben eine fundamental andere: Er soll herausragende Verdienste auf dem Gebiet der Wissenschaften und Künste für die Allgemeinheit sichtbar machen; er soll die öffentliche Anerkennung von Exzellenz, Eigensinn, Vielfalt zum Ausdruck bringen; und er soll, nicht zuletzt, die gesellschaftliche Wertschätzung von Wissenschaft und Kunst fördern, indem er in die Öffentlichkeit hineinwirkt.

Das war damals in Preußen eine fortschrittliche Idee, und es ist heute, finde ich, eine wichtige demokratische Aufgabe Ihres Ordens – gerade in dieser Zeit der Krisen und des Krieges, in der wir erleben, wie Wissenschaft und Kunst immer wieder unter Druck geraten.

Die Pandemie hat vielen Menschen noch einmal bewusst gemacht, dass wir komplexe Probleme nur lösen können, wenn es zum einen freie wissenschaftliche Forschung gibt, eine offene, nie abgeschlossene Suche nach Wahrheit, und zum anderen eine politische Debatte, die sich an den Erkenntnissen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften orientiert.

Zugleich haben wir in den vergangenen beiden Jahren auch erfahren, wie anfällig viele Menschen für Desinformation und Verschwörungstheorien sind, wie fragil das Vertrauen auch in Wissenschaft ist – gerade dann, wenn öffentlich besonders sichtbar wird, dass auch Expertinnen und Experten keineswegs immer eindeutige, unumstrittene Lösungen liefern, dass auch sie uns nicht erlösen können von der Komplexität der Welt – ganz zu schweigen von den Zumutungen und Anstrengungen demokratischer Politik.

Dass wir nicht nur die Wissenschaften, sondern auch die Künste brauchen, um uns in der Welt zurechtzufinden und unser Leben zu gestalten, auch das hat uns die Coronakrise besonders eindringlich vor Augen geführt. Und nicht zuletzt ist bei vielen in den vergangenen beiden Jahren hoffentlich auch die Einsicht gewachsen, dass Künstlerinnen und Künstler nicht nur Freiheit und Wertschätzung, sondern auch die Unterstützung von Bürgerinnen, Bürgern und Politik brauchen, um für die Kunst, aber eben auch von der Kunst leben zu können.

Gedeihen können Wissenschaften und Künste nur in einer Gesellschaft, in der ihre jeweilige Eigengesetzlichkeit verstanden und respektiert wird. Deshalb brauchen wir Botschafterinnen und Botschafter der freien Wissenschaft, die der Öffentlichkeit nicht nur Ergebnisse, sondern auch Prinzipien, Methoden und Grenzen wissenschaftlicher Forschung vermitteln – und das nicht nur in Krisenzeiten.

Deshalb brauchen wir Verteidigerinnen und Verteidiger der freien Kunst, die das öffentliche Bewusstsein für den Wert von Unabhängigkeit und Zweckfreiheit schärfen – das Bewusstsein dafür, dass Kunst tröstet, Mitgefühl weckt, Schönheit schafft, Widerstand stärkt, neue Perspektiven aufzeigt und Dinge in Bewegung bringt, gerade weil sie keiner Ethik der Nützlichkeit und keinem politischen Ziel verpflichtet ist.

Mit anderen Worten: Demokratie braucht freie Wissenschaften und Künste, weil sie auf das Engagement kritischer, selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger baut. Freie Wissenschaften und Künste bringen Gesellschaft mit sich selbst ins Gespräch – und halten sie vor allen Dingen veränderungsbereit. Und genau das, vermute ich, genau das ist der Grund, warum Diktaturen und autoritäre Systeme sie so sehr fürchten!

Wir erleben heute, wie der russische Präsident Geschichte verfälscht, um mit historischen Mythen imperiale Ansprüche zu begründen und seinen völkerrechtswidrigen Krieg zu legitimieren. Wir erleben, wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Künstlerinnen und Künstler nicht nur in Russland, Weißrussland und China, sondern auch in vielen anderen Ländern der Welt zensiert, bedroht, verfolgt, verhaftet oder gar ins Exil getrieben werden. Sie alle brauchen unsere Unterstützung.

Ich bin überzeugt: Gerade heute brauchen wir den Orden Pour le mérite – einen Orden, der sichtbar macht, welchen Wert die Wissenschaften, die Künste in der liberalen Demokratie haben, der für die schöpferische Kraft des Individuums steht, für lebendige Vielfalt und auch den Austausch über Grenzen hinweg.

Gerade heute brauchen wir eine Schriftstellerin wie Herta Müller, die uns den Wert der Freiheit erkennen lässt, indem sie davon erzählt, wie die Diktatur ein ganzes Land in ein „Angstgebäude“ verwandelt, wie sie einem das Leben stiehlt und eine „Gleichheit der Hässlichkeit“ schafft.

Gerade heute brauchen wir Wissenschaftler wie Christopher Clark oder Peter Schäfer, die sich nicht von den Aktualitäten der Tagespolitik treiben lassen; die uns Wege in die Zukunft ebnen, indem sie die Vergangenheit beleuchten; die uns nicht zuletzt bewusst machen, dass wir die Erinnerung an die Shoah, an Kriege und Diktaturen wachhalten und an kommende Generationen weitergeben müssen.

Gerade heute gehört der Orden Pour le mérite, gehören Sie und Ihr Werk mitten hinein ins öffentliche Leben. Und auch deshalb ist es schön, dass wir wieder zusammen sein können, hier in diesem offenen Schloss, das, ebenso wie Ihr Orden, im Königreich Preußen entstand, aber längst zu einem Ort der Demokratie geworden ist.

Ich wünsche Ihnen und uns allen einen nicht nur anregenden, sondern auch entspannten Abend.
Redaktion Maik Thomaß
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