Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Osnabrück an Bundespräsident a. D. Christian Wulff

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Osnabrück an Bundespräsident a. D. Christian Wulff

Beitragvon Maik Thomaß » 04.07.2022, 12:07

Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier zur Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Osnabrück an Bundespräsident a. D. Christian Wulff


„Wo sind die Menschen?“ fragte höflich der kleine Prinz. Die Blume hatte eines Tages eine Karawane vorüberziehen sehen. „Die Menschen? Es gibt, glaube ich, sechs oder sieben. Ich habe sie vor Jahren gesehen. Aber man weiß nie, wo sie zu finden sind. Der Wind verweht sie. Es fehlen ihnen die Wurzeln, das ist sehr übel für sie.“

Was Sie hörten, ist eine Passage aus dem „Kleinen Prinzen“, erklärtermaßen eines der Lieblingsbücher des neuen Ehrenbürgers dieser Stadt. Ob diese Passage auch seine Lieblingspassage ist, weiß ich nicht, aber sie hat mehr mit dem heutigen Tag zu tun, als es auf den ersten Blick scheint – und sie hilft, einiges von dem, was das Leben und Wirken von Christian Wulff angeht, zu beleuchten. Wie übrigens der „Kleine Prinz“ nur scheinbar ein Buch für Kinder ist, sondern in Wirklichkeit eines für jene Erwachsenen, die schon die Höhen und Tiefen des Lebens gesehen haben.

Es fehlen den Menschen die Wurzeln: Wie manche der Pflanzen, Tiere und Menschen, denen der kleine Prinz begegnet, hat die Blume nur einen beschränkten, aber manchmal vielsagenden Blick auf die Welt. Die Blume also weiß von Menschen nur, dass es wenige gibt und sie anscheinend nie irgendwo wirklich zu Hause sind.

Eine Ehrenbürgerwürde zu verleihen bedeutet aber nun, ganz im Gegenteil dazu, von einem Menschen festzustellen, dass er auf ganz besondere Weise an einen Ort, zu einer Stadt gehört. Allein schon Bürger zu sein heißt im Vollsinn des Wortes: Ich gehöre hierher, ich habe hier Wurzeln geschlagen. Hier bin ich anzutreffen. Und: Hier bin ich auch anzusprechen, hier bin ich bereit, mich einzubringen, mich zu engagieren für die gemeinsame Sache, für die Bürgerschaft.

Christian Wulff hat das hier in Osnabrück engagiert und lange getan. Am Anfang seines öffentlichen politischen Lebens, lange bevor er in hohe und höchste Ämter gewählt wurde, war er hier Mitglied im Stadtrat, fünfzehn Jahre lang. Er hat hier, an der Wurzel aller Politik, nämlich der Kommunalpolitik, gelernt, was es heißt, öffentliche Verantwortung für die Mitbürger zu übernehmen. Was es heißt, Interessen zu vertreten und zwischen verschiedenen Interessen einen Ausgleich zu finden. Was es heißt, das Lebensumfeld von sehr unterschiedlichen Menschen so zu gestalten, dass alle sich zu Hause fühlen können, dass alle gerne hierhergehören, dass alle, die wollen, hier gerne Wurzeln schlagen können.

Es wird regelmäßig unterschätzt, wie buchstäblich elementar wichtig eine gute Politik vor Ort für unser gesamtes Gemeinwesen ist. Es wird oft unterschätzt, und es kommt in den großen Medien viel zu wenig vor, wie segensreich und unabdingbar gute Kommunalpolitik auch für das – wie wir sagen – Große und Ganze ist. Nur wer sich da, wo er lebt, wirklich zu Hause fühlt, wird sich auch selber für das Gemeinwesen interessieren und einsetzen.

Es ist ein empfindlicher Mangel, ja es ist gefährlich für die Demokratie als Ganze, wenn es in manchen Landstrichen unseres Landes immer schwerer fällt, Menschen zu finden, die bereit sind, vor Ort Verantwortung zu übernehmen, die bereit sind, für den Ortschaftsrat, für den Stadtrat, für das Amt der Bürgermeisterin oder Bürgermeisters zu kandidieren. Und es ist vor allem nicht hinnehmbar, wenn das auch deswegen geschieht, weil Kommunalpolitiker und ihre Familien von gewaltbereiten Polit-Hooligans, von sogenannten Querdenkern oder wie immer sie sich selber bezeichnen, mit Hass verfolgt oder gar an Leib und Leben bedroht werden.

Dabei brauchen wir – auf allen politischen Ebenen – Menschen mit Zielen, mit Ehrgeiz; Menschen, die sich um mehr kümmern als nur um sich selbst; Menschen die die Welt zu einem besseren Ort machen wollen! Christian Wulff ist so ein Mensch.

Vielleicht ist seine ganz persönliche Biographie sogar ein Beleg für die Vermutung: Wer Politik vor Ort kann, dort, wo man den Menschen am nächsten ist, wo übrigens Gegensätze zwischen politischen Gegnern auch nicht immer mit Ärmelschonern ausgetragen werden, der ist auch geeignet und fähig, als Abgeordneter im Landtag zu wirken, im Bundesvorsitz einer Partei und gar als Ministerpräsident eines großen Landes. So hat es Christian Wulff vorgemacht.

Gemeinsam gute Wurzeln schlagen können: dafür muss immer wieder der Boden bereitet werden. Das erreicht Politik mit Taten – aber manchmal auch mit Worten. Auch die können eine große und langdauernde Wirkung haben.

Vielleicht hat sich Christian Wulff seiner tiefen Erfahrungen vor Ort erinnert – nämlich wie wichtig es ist, gemeinsam an einem Ort Wurzeln schlagen zu können –, als er dann als Bundespräsident in seiner Rede zum zwanzigsten Jahrestag der Deutschen Einheit 2010 formulierte: „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Diesen letzten Satz hat niemand vergessen.

Man kann diesen Satz auf alle mögliche Weise missverstehen wollen. Zwei Dinge aber stehen für mich fest: Erstens, es war ein mutiger Satz, denn er fiel in eine Zeit, als es Debatten mit vielen rassistischen und besonders antimuslimischen Untertönen gab und als ein Buch, das festzustellen glaubte, Deutschland schaffe sich ab, ein Bestseller war. Hier hat der Bundespräsident ein notwendiges und entschiedenes Wort gesagt.

Und zweitens: Es war ein Satz, der tief von dem geprägt war, was die Friedensstadt Osnabrück ausmacht. Nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg, nach jahrelangen zähen und mühseligen Verhandlungen unter erbitterten Gegnern zwischen Münster und Osnabrück endlich ein haltbarer Friede. Ein Friede, der die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen gelten ließ. Ein Friede, der durch gemeinsame Anerkennung einer gemeinsamen Rechts- und Friedensordnung allen ermöglichte, gewaltfrei und versöhnlich zusammenzuleben.

In der gleichen Rede hat Bundespräsident Wulff, das wird oft vergessen, Grundvoraussetzungen formuliert für ein Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen in unserem Land: „Zu allererst die Würde eines jeden Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller rechnen – das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.“ Das kann ich selbstverständlich nicht nur alles unterschreiben, das gilt auch nach wie vor und unverändert.

An einer anderen Stelle hat Bundespräsident Wulff vielleicht einen seiner leitenden politischen Grundsätze formuliert. In seiner Rede zur Begrüßung von Papst Benedikt bei dessen Besuch in Deutschland 2011 kam der Bundespräsident auf die Situation zu sprechen, dass die Christen in unserem Land immer noch geteilt sind in unterschiedliche Konfessionen. Er fragte, was die Kirchen tun, um diese Spaltung zu überwinden, und er sagte dann kurz und deutlich: „Das Trennende bedarf der Begründung, nicht das Gemeinsame.“

Auch dies teile ich, als politischen Grundsatz sowieso und auch als handlungsleitende Maxime im ökumenischen Dialog. Aber es war doch mutig, das im Angesicht des Papstes so deutlich und öffentlich auszusprechen, gerade als gläubiger und in seiner katholischen Kirche verwurzelter Christ wie Christian Wulff.

Und als der Bundespräsident den Papst genauso öffentlich fragte, wie barmherzig die Kirche eigentlich mit Menschen umgehe, die Brüche in ihrer Lebensgeschichte haben, da war das keine Effekthascherei, sondern sehr ernst gemeint und auch von persönlicher Erfahrung geprägt. Das hat Ihnen, lieber Herr Wulff, großen Respekt eingebracht.

Ein großer Bruch in seiner Lebensgeschichte war für Christian Wulff ganz gewiss sein Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten. Wo eigene Fehler liegen, die zu dem bitteren Schritt führten, das wird Christian Wulff besser beurteilen können als jeder andere hier im Saal. Wichtig ist: Von allen rechtlichen Vorwürfen wurde er freigesprochen, auch das wollen wir nicht vergessen. Aber Christian Wulff hat, wie ich es niemandem wünschen möchte, eine Gnadenlosigkeit der öffentlichen Meinung erfahren, die ihn in manchen Stunden vielleicht auch denken ließ, wie die Blume in der Geschichte vom Anfang: „Die Menschen? Es gibt, glaube ich, sechs oder sieben.“

Umso mehr können wir ihm für seine noblen Worte zum Abschied danken: Es war eine Zeit, so erinnerte er sich, „mit Höhen und Tiefen […] Aber vor allem war es eine Erfahrung, dass es wichtig und letztlich erfüllend ist, sich politisch zu engagieren.“

Lieber Christian Wulff, Sie haben unser Land politisch mitgeprägt, auf allen Ebenen unserer Demokratie: im Stadtrat von Osnabrück, im Landtag von Hannover, wo sich – dreißig Jahre ist das jetzt her – unsere Wege das erste Mal kreuzten, als Ministerpräsident Niedersachsens. Und als zehnter Bundespräsident der „bunten Republik Deutschland“, wie Sie schon in Ihrer Antrittsrede und bis heute immer wieder gerne sagen.

Und auch jetzt sorgen Sie in Ihren verschiedenen Ehrenämtern dafür, dass es dem Gemeinwesen weiter gut geht. Dem Chorgesang, in dem viele tausende Mitbürgerinnen und Mitbürger so engagiert Musikkultur erleben und für andere erlebbar machen, gilt Ihre besondere Leidenschaft und Ihr großer Einsatz. Und selbstverständlich weiterhin auch dem Zusammenleben der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Herkünften in unserem Land.

Wer sich so leidenschaftlich dafür einsetzt, dass Menschen gemeinsam eine Heimat finden, sie erhalten und sie lieben können, der wird vollkommen zu Recht Ehrenbürger der Friedensstadt Osnabrück. Ihre Frau, Ihre Kinder und Ihre Freunde, die heute hier sind, werden sich mit Ihnen freuen und stolz auf Sie sein.

Ihnen, lieber Christian Wulff, noch einmal meinen herzlichen Glückwunsch – und der Stadt Osnabrück zu ihrem neuen Ehrenbürger!
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