27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkstunde des Deutschen Bundestages: Ansprache von Klaus Schirdewahn

27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkstunde des Deutschen Bundestages: Ansprache von Klaus Schirdewahn

Beitragvon Maik Thomaß » 01.02.2023, 13:41

27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus – Gedenkstunde des Deutschen Bundestages: Ansprache von Klaus Schirdewahn


Sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin!
Verehrter Herr Bundespräsident!
Verehrte Anwesende!

Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen kann, ist nicht selbstverständlich. Noch vor wenigen Jahren war ich tief in meinem Inneren so verunsichert, schämte mich meiner Gefühle, versteckte mich, war immer auf der Hut, nur ja nichts Falsches zu sagen, nur nichts von meinen Gefühlen zu erkennen zu geben.

Bis vor fünf Jahren galt ich als vorbestraft, weil ich im Jahr 1964 – als 17-Jähriger – von der Staatsanwaltschaft in Rheinland-Pfalz angeklagt und daraufhin schuldig gesprochen wurde – schuldig wegen meiner Gefühle für einen anderen Mann, schuldig, gegen den § 175 des Strafgesetzbuches verstoßen zu haben. Dieser Paragraf war 1935 von den Nationalsozialisten verschärft worden. Diese verschärfte Fassung galt in der BRD noch bis 1969. Komplett abgeschafft wurde der Paragraf erst 1994. Und erst im Jahre 2017 wurden die Schuldsprüche aufgehoben, auch mein Schuldspruch.

Was während des Nationalsozialismus strafrechtlich galt, galt für mich und viele andere noch bis 1969. Damals begann sich unsere Gesellschaft langsam mit den zwischen 1933 und 1945 begangenen Verbrechen zu beschäftigen. Aber „wir“ waren mit „unserer“ Lebensweise noch nicht willkommen. Zu sehr wirkte das Gift des nationalsozialistischen Menschen- und Familienbildes in Geist und Köpfen noch nach. „Wir“ – das sind nicht nur schwule Männer, sondern auch lesbische Frauen, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Personen. Für uns alle war das Dritte Reich noch nicht zu Ende, wie es 1963 der Historiker Hans-Joachim Schoeps überspitzt, aber treffend sagte.

Die einzige Möglichkeit für mich selbst, im Jahr 1964 eine Freiheitsstrafe abzuwenden, bestand darin, eine Therapie zu beginnen, die mich von meiner Homosexualität „heilen“ sollte – „heilen“ in Anführungszeichen. Mein damaliger Mitangeklagter, der bereits 21 Jahre alt war und damit als volljährig galt, wurde mit einer Gefängnisstrafe von einem Jahr belegt.

Meine Familie war geprägt durch den christlichen Glauben. Ich selbst habe geglaubt, ich könnte mich ändern, mein Leben nach damals vorherrschender christlicher Norm leben. Doch was macht das mit einem Menschen, der niemandem ein Leid angetan hat, der niemanden bedrängt, bedroht oder angegriffen hat? Was macht es mit einem Menschen, der gezwungen wird, eine Therapie durchzuführen, die ihm seine Gefühle, seine Lebensweise, seine Identität, sein Wesen abspricht?

Meine spätere Ehefrau hat mich zeitweise zu dem Therapeuten begleitet. Wir beide haben geglaubt: Wir schaffen das. Aber für mich begann ein erzwungenes Doppelleben, eine Zeit, in der ich mich verstecken und verstellen musste, um überleben zu können, eine Zeit, in der ich eingeschüchtert war, krank in der Seele, in der ich mich schämte für das, was ich fühlte, obwohl ich niemandem etwas getan hatte.

Ich versuchte, nirgendwo anzuecken, es allen recht zu machen. Mit niemandem konnte ich nach meiner Hochzeit darüber sprechen, was wirklich mit meinen Gefühlen los war. Ich war wieder gefangen. Welche Last und welche Sorgen ich auch meiner Ehefrau und letztlich auch meiner Tochter zugefügt habe, ist mir erst später bewusst geworden, aber da war es schon zu spät.

„Schande“, „Todsünde“, „Verbrechen“ – das sind Begriffe, die ich nicht nur von meinen Eltern hörte. Ich baute eine Scheinwelt um mich herum auf, wurde stumm, litt unter Depressionen und körperlichen Schmerzen – jahrzehntelang. Doch meine Gefühle ließen sich nicht abstellen oder unterdrücken. In meinem Inneren bewahrte ich mir den Rest eines Traumes von einem „freien und normalen“ Leben. Durch die jahrelange Arbeit von Aktivisten und Vorbildern ermutigt, entschloss ich mich spät in meinem Leben, mich endlich als schwuler Mann öffentlich zu zeigen. Dies war eine Befreiung, nach der ich zum ersten Mal das Gefühl hatte: Ich bin ich!

Und die Erfahrung gemacht zu haben, von anderen Menschen so geliebt zu werden, wie ich bin, kann ich kaum beschreiben. Für heterosexuelle Menschen ist das überhaupt keine Frage – für mich jedoch war es eine überwältigende Erfahrung, dass angefangen von meinen Geschwistern immer mehr Menschen zu mir standen. Dadurch konnte ich selbst aktiv werden und engagiere mich bis heute für die gleichberechtigte Teilhabe von queeren Menschen in meiner jetzigen Heimatstadt Mannheim und darüber hinaus. All denen, die mir bisher auf meinem Weg geholfen und mich begleitet haben, möchte ich sehr herzlich danken.

Ich weiß, dass viele Menschen aus der queeren Community ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht haben, dass viele Menschen wie ich jahrzehntelang versteckt gelebt haben und weiterhin versteckt leben.

Ich setze mich mit meiner ganzen Kraft dafür ein, dass unsere Geschichte nicht vergessen wird – gerade heute, wo die queere Community erneut großen Anfeindungen weltweit und auch in Deutschland ausgesetzt ist. Es ist mir wichtig, dass die Jugend nicht vergisst, was es für Mühe und Kraft gekostet hat, dass wir so leben können, wie wir jetzt leben dürfen.

Sie, Herr Bundespräsident, sagten 2018: „Zu unserem Gedenken muss aber auch die Zeit nach 1945 gehören. Die Würde von Homosexuellen, sie blieb antastbar. Zu lange hat es gedauert, bis auch ihre Würde etwas gezählt hat in Deutschland.“

Deswegen ist die heutige Gedenkstunde wichtig – nicht nur wichtig für mich persönlich, sondern für die gesamte Community. Die Gedenkstunde ist ein Zeichen der Anerkennung und ein Signal in die Gesellschaft hinein. Denn sie drückt Trauer über das Leiden aus, das queeren Menschen im Nationalsozialismus angetan wurde. Sie macht aber auch das Unrecht, das 1945 eben nicht endete, sichtbar und gibt den Betroffenen deswegen etwas von ihrer Würde zurück. Ich spreche deswegen auch für all diejenigen, die sich bis heute wegen ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichen Identität verstecken müssen, die deswegen beschimpft, angefeindet, bedroht, ja sogar getötet werden. Sie alle – „wir“ alle stehen hier.

Wie gesagt: Dass ich jetzt vor Ihnen sprechen konnte, ist noch nicht selbstverständlich!

Ich danke Ihnen.
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